von Mia
Ein französischer Archäologe im Osmanenland, der Jahrestag des versuchten Putsches, eine erste ausländische Operation an Bob, Kochen im Ghetto – Istanbul hat viel in petto für uns.
Ich weiß nicht genau warum, aber Istanbul hat mich mit einem Bann belegt. Bereits bei unserem ersten Besuch 2015 war ich so fasziniert von dieser Stadt, dass wir statt 5 Tagen fast 2 Wochen hier blieben. Dieses Mal ist es nicht anders. In Istanbul fühle ich mich augenblicklich wohl, obwohl vieles fremd, alles extrem laut ist, die Straßen überfüllt und dreckig sind, man manchmal kaum Platz zum Atmen hat. Ich kann mir nicht helfen, ich liebe diese Stadt – trotz all ihrer Gegensätze: Verwahrloste Kinder gehen betteln und verkaufen Taschentücher an die Eltern von verwöhnten Kindern, denen das Schokoladeneis über die Hände läuft. An Straßenecken und auf Grünplätzen schlafen Obdachlose, während die Schickeria der oberen Tausend gemeinsam mit den vielen, vielen Saudi-Touristen an ihnen entlang promeniert. Jeder schmeißt seinen Müll auf die Straßen, trotzdem sind sie an jedem Morgen blitzblank sauber – die Müllabfuhr putzt jede noch so kleine Gasse in der Nacht. Voll verschleierte Frauen laufen neben Mädchen im Minirock. Häuser, die auseinanderfallen wie nach einem Bombenanschlag, stehen neben Neubauten, die vor frischer Farbe, isolierten Fenstern und wohlhabenden Bewohnern protzen. Jeder ist im Gespräch freundlich zu dir, zählt dich zu seinen Gästen, du wirst zu Tee eingeladen, aber auf der Straße wird geschrien und geschimpft, was das Zeug hält. Es gibt Viertel, die aussehen wie die schlimmsten Slums, wo es laut, voll und dreckig ist. Zwei Querstraßen weiter ist alles ruhig, sauber, neu – und viermal so teuer.
Selbst als wir mit unserem Bob an dem allgemeinen Trubel des Istanbuler Straßensystems teilnehmen müssen, versiegt meine Freude nicht. Tatsächlich schaffen Silas mit seinen Fahrkünsten und ich mit meinen Navigierkünsten es, uns nur ein einziges Mal zu verfahren. Unser Gastgeber Nehemy hat uns sogar einen Parkplatz im Otopark besorgt, wo Bob sich beschützt ein paar Tage ausruhen kann. Wir dagegen wohnen bei Nehemy, einem Freund und Kollegen von Silas. Er wohnt in Beyoglu, direkt um die Ecke des berühmten Taksim Platzes und nördlich der ebenso berühmten Istiklal Straße. Trotzdem ist sein Viertel nicht besonders schick und auch nicht teuer. Hier wohnen – trotz der Lage – kaum westliche Ausländer. Die Straßen sind klein, voll mit Autos und am Abend sitzen die Menschen draußen und quatschen, lachen, streiten. Nehemy wohnt in einem der weniger schönen, stellenweise an einen Slum anmutenden Viertel, wo jeder jeden kennt und jeder alles weiß. Er fühlt sich hier wohl und wir verstehen bald, warum. Es ist kein Fassadenort, zurecht gemacht für Besucher und ansonsten seelenlos. Hier leben echte Menschen ein Leben abseits der Touristenströme, die durch die berühmten Viertel Istanbuls ziehen. Lautstark gehen sie ihrer Arbeit nach, kümmern sich um ihre Kinder, machen sich Sorgen, feiern ihre Feste und diskutieren. Besonders die Kinder sind hier allgegenwärtig. Sie spielen in den Gassen, auf den Straßen, in verlassenen Häusern – überall, wo gerade Platz ist. Zwar streiten sie auch viel, doch haben viele von ihnen einen unglaublich liebevollen Umgang miteinander.
Das können wir insbesondere beim samstäglichen Mutfak-Kochen beobachten. Nehemy ist Teil einer Gruppe, die jeden Samstag für die Kinder des Viertels eine große, gesunde Mahlzeit kocht (Mutfak heißt Küche). Jeder ist willkommen, mitzumachen, mitzukochen, mitzuessen. Silas und ich sind dieses Mal auch mit dabei. Gemeinsam gehen wir mit Nehemy auf den Markt und fragen die Leute, ob sie angedatschtes Gemüse haben, das niemand mehr kaufen möchte. So sammeln wir kiloweise Kartoffeln, Auberginen, Zucchini, Tomaten, Paprika, Gurken, Zitronen, Äpfel, Birnen, Pfirsiche… Fast alle Marktleute (ein Blödmann ist immer dabei) sind unglaublich freundlich und hilfsbereit. Sie kennen Nehemy und die Mutfak häufig schon und sind vorbereitet. Mit Rucksäcken voller Nahrungsmittel verlassen wir den Markt wieder.
In der Mutfak werden wir schon erwartet. Während ich und Cece mit dem vielen Geschnippel anfangen, beschäftigen Nehemy, Eida und Silas die ersten Kinder. Ein ganzer Haufen ist schon eingetroffen, der draußen um die Wette nach Aufmerksamkeit brüllt. Die Kinder sind begeistert vom Kochen und wollen unbedingt mithelfen. Zum Glück haben wir gefühlte 20 Kilo Bohnen mitgebracht, die sortiert und ausgepuhlt werden müssen. Silas muss mehrmals Streitereien schlichten, weil jeder jedem die Arbeit wegnehmen will. Sie lechzen nach einem Lob für ihre tolle Arbeit und bei jedem „Cok iyi!“ bekommen wir ein breites Lächeln zurück. Während alle Zutaten im Kochtopf zur Suppe werden, wird das Spiel draußen immer wilder. Zwei kleine Jungs sind begeistert von Silas und klettern wie die Äffchen auf ihm herum. Sie sind einfach nicht mehr zu stoppen. Dann wird gemeinsam gegessen und wir räumen das Schlachtfeld hinterher wieder auf. Zum Abschied gehen wir fünf noch einen Cay trinken. Puuuh, geschafft…
Am nächsten Tag erwartet uns Kontrastprogramm: Wir lösen unsere VIP-Card von Irfan und Moustafa beim Bloom Spa im 5-Sterne Pullman Hotel ein. Das heißt: Hamam, Swimming Pool, Whirlpool, einstündige Massage und ein riesiger Fitnessraum. Das alles bekommen wir für einen ganzen Tag – einfach so. Das ist türkische Gastfreundschaft vom Feinsten. Danke!
Doch wir sind nicht nur zum Spaß hier. Wir haben die ganze Zeit überlegt, ob wir es nach China schaffen und – viel wichtiger – ob wir es schaffen wollen. Die Strecke kommt einem nach den vielen Wochen auf der Straße immer länger vor und uns wird immer klarer, dass wir im Falle des Erfolgs Bob wohl nicht mehr mit nach Hause kriegen. Unser Geld reicht zum Hinfahren, aber nicht zum Zurückkommen… Was sind die Alternativen? Wir besuchen die iranische und die russische Botschaft, um uns über Visa-Formalitäten schlau zu machen. Ein Unterschied wie Tag und Nacht: In der iranischen Botschaft werden wir sehr freundlich empfangen und uns wird ausführlich erklärt, was wir wann, wo und wie machen müssten. Die russische Botschaft lässt uns nicht einmal ins Gebäude. Uns werden die Pässe abgenommen und dann die Tür vor der Nase zugeschlagen. Dann: „Nein, geht nicht. Müsst ihr in Deutschland machen.“ Na schönen Dank auch… Wir haben uns jetzt für ein Visum in den Iran beworben, wegen der israelischen Stempel im Pass wird das aber wahrscheinlich eher nicht klappen… Erst mal fahren wir sowieso weiter nach Aserbaidschan. Vielleicht kommen uns unterwegs ja noch Ideen…
Ansonsten trinken wir in Istanbul sehr viel Bier und sehr viel Cay. Wir erkunden das Nachtleben rund um die Istiklal und den Taksim mit Nehemy, wir spazieren viel durch die Gegend und natürlich fahren wir sehr viel mit der Fähre über den Borsporus (meine Lieblingsbeschäftigung in Istanbul). Wir sind passend zum Jahrestag des vereitelten Putsches da und können Propaganda hautnah erleben. Wir treffen Silas‘ Restauratorin-Kollegin Vanessa, lernen viele neue Leute kennen, zerstören Nehemys Klo, reparieren es wieder, lassen Bob von einem Mechaniker untersuchen, gehen viel und günstig Essen und entdecken Altes und Neues in dieser wunderbaren Stadt. Eine Woche lang genießen wir den Luxus Istanbuls – danke dafür Nehemy!
Als wir uns wieder auf den Weg machen wollen, hält Istanbul uns mit einem Gewitter vom Feinsten zurück. Die ganze Stadt verschwindet in schwarzen Wolken und die Straßen stehen unter Wasser. Also bleiben wir doch noch eine Nacht, bevor es endlich wieder ans Meer geht.
Ahhh! Wieder mal toller Lesestoff! Schon einen Verlag gefunden?
Noch nicht… 😉
Toller Bericht! Danke!
Gerne 🙂